Analyse der „Wahlen 2018“ in der Türkei
Die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen in der Türkei haben stattgefunden. 87 % der ca. 60 Millionen türkischen Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimme abgegeben und für eine hohe Wahlbeteiligung gesorgt (darunter 1,3 Millionen Wählerinnen und Wähler außerhalb der Türkei).
Die türkischen Wähler haben sich für den amtierenden Staatspräsidenten Erdogan und die AKP-geführte Volksallianz (Koalition aus der islamisch-konservativen AKP und der ultranationalistischen MHP) entschieden. Erdogan genießt trotz leichter Verluste wiederholt die Gunst und das Vertrauen der türkischen Wählerinnen und Wähler.
Die AKP hat ihren Stimmanteil – von 50 % auf 43 % – um fast 7 % verringert. Dafür bleibt der bisher heimliche, jetzt voraussichtlich amtliche Koalitionspartner MHP unverändert bei 11 %.
Die CHP blieb hinter ihrem Ergebnis von 2015 und hinter den Erwartungen der kemalistisch geprägten großstädtischen Wählerschaft. Der CHP-Kandidat Muharrem Ince erreichte allerdings mehr Stimmen (31 %) als seine Partei (22 %). Das ist eine deutliche Zustimmung für Ince. Ein Führungswechsel in der Oppositionspartei dürfte damit unmittelbar anstehen.
Erstmals etabliert sich auch die IYI Partei mit 10 % der Stimmen im Parlament. Sie könnte in der Zukunft die moderat-konservativen Stimmen innerhalb des konservativen Spektrums absorbieren.
Die HDP schafft es erneut in das Parlament, trotz einer sehr schwierigen Ausgangslage. Schließlich sitzen der Spitzenkandidat der Partei und Hunderte weitere HDP-Politikerinnen und Politiker in Haft.
Die Allianz der Opposition, die sich aus dem gesamten Spektrum der türkischen Parteienlandschaft formiert hat, hat ihr Ziel nicht erreicht. Die Allianz der Opposition scheint für die Wählerinnen und Wähler eine größere Ungewissheit dargestellt zu haben als Erdogan zu wählen.
Erdogan scheint trotz eines Verlustes von 7% weiterhin als Garant für Stabilität, Sicherheit und Wohlstand zu gelten. Damit wird ein charakteristisches Verhalten der türkischen Wählerschaft erneut unterstrichen – Sie ist etatistisch und wagt keine Experimente. Trotzdem sind die Solidarität und der Austausch unter den türkischen Oppositionsparteien positiv zu verzeichnen. In der Türkei bleibt somit die Opposition – im Gegensatz zu Russland- lebendig.
Es wird auch die in der politischen Theorie verbreitete These unterstrichen, dass in wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeiten autoritäre Führungspersönlichkeiten von der Wählergunst besser profitieren.
Des Weiteren kommen Erdogan und der Volksallianz die Polarisierung der türkischen Gesellschaft zu Gute. Erdogan bindet somit die konservativen Stimmen, denen man aufgrund der Etablierung in der Mitte der Gesellschaft in der Ära Erdogan zugetraut hatte, für einen politischen Wechsel zu stimmen.
Erdogan hat nun die Möglichkeit die Türkei über fünf Jahre mit einer „auf seine Person zugeschnittenen politischen Macht“ zu führen. Dabei muss er stets auf die Unterstützung der Nationalisten hoffen, die eine politische Schlüsselrolle erlangt haben.
Angesichts der innen- und außenpolitischen Herausforderungen für die Türkei, der Stagnation der EU-Aufnahme-Gespräche und der drohenden wirtschaftlichen Rezession bleibt allerdings wenig Raum für Zukunftsoptimismus.
Erdogan und die Türkei werden in den nächsten 5 Jahren weitere politische Krisen bewältigen müssen.
- Türkeistämmige Wählerinnen und Wähler in Deutschland
Die türkeistämmigen Wählerinnen und Wähler in Deutschland haben – wie in den Jahren zuvor – überdurchschnittlich hoch für Erdogan gestimmt. Nahezu 65 % aller Stimmen fallen in Deutschland auf Erdogan.
Dies erklärt sich aus der sozioökonomischen Stellung der türkeistämmigen Bevölkerung. Sie ist ehemals von der Peripherie der türkischen Gesellschaft in das untere Drittel der sozialen Skala in Deutschland migriert. Hieraus erklären sich Marginalisierungstendenzen und das ähnliche Wahlverhalten vergleichbarer sozialer Gruppen in der Türkei. Ebenso konserviert die türkeistämmige Bevölkerung in der Minderheitenstellung in Deutschland kulturelle und politische Einstellungen, die ein relativ emotionales Wahlverhalten erklären.
Gerade türkeistämmigen Jugendlichen in Deutschland scheint Erdogan eine Stimme zu geben. Die einfache politische Sprache und einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen erreichen offensichtlich türkeistämmige Jugendliche. Sie sehen in Erdogan einen starken „Identitätsstifter“.
Das Wahlverhalten der türkeistämmigen Wählerinnen und Wähler bei deutschen Wahlen unterscheidet sich stark. Hier tendieren konservative türkeistämmige Wählerinnen und Wähler mehrheitlich für die sozialdemokratische Partei, für die Linke und für die Grünen. Auch dieses Phänomen erklärt sich aus der sozioökonomischen Stellung der türkeistämmigen Bevölkerung.
Autor: Dr. Ahmet Ünalan/ Universität Duisburg-Essen- Lehrstuhl für moderne Türkeistudien